Fund: Edith und Jürg Mächler-Frey
Untersuchung und Recherche: Jürg Mächler-Frey
Einleitung
Am 15. März 2023 fanden wir in einem Wald bei Baden AG einen Porenpilz auf einem am Boden liegenden Stamm. Der Stamm lag dort offenbar schon längere Zeit, jedenfalls hatte er bereits keine Rinde mehr. Die halbrunden, konsolenförmigen Pilzfruchtkörper waren weich, fast etwas flatterig und von den Regenfällen der vergangenen Tage leicht aufgedunsen. Die Porenschicht auf der Unterseite wies zumeist ein labyrinthisches Muster auf, etliche Poren wirkten fast wie abgeplattete Zähnchen oder Kanülenspitzen mit Schrägschliff (Bilder 1-4).
Bild 1-3: Die Hirschbraune Tramete auf liegendem Baumstamm, vermutlich Rotbuche
Beschreibung des Habitats
Beim Fundort handelt es sich um einen Mischwald bei Baden AG, westlich des Ortsteils Brunnmatt, ca. 420 m. ü. M., in einem Felssturzgebiet mit imposanten Nagelfluhfelsen des Naturwaldreservats Teufelskeller. Seit 1987 wird in diesem Wald auf jegliche forstliche Nutzung verzichtet.
Mikro- und makroskopische Untersuchungen des Fundes
Der Fund schien uns nicht besonders zu sein. Als erstes dachten wir an Bjerkandera fumosa (graugelber Rauchporling). Doch die Fruchtkörper unseres Fundes waren eher dünn und hatten keinerlei Geruch, was bei einer reifen B. fumosa kaum vorkommt. B. fumosa hat ausgereift meist einen recht unangenehmen Geruch. Was ebenfalls nicht zu B. fumosa passte, waren die deutlich labyrinthischen Poren.
Breitenbach u. Kränzlin(1) beschreiben die Poren von B. fumosa als rundlich bis eckig, Ryvarden u. Melo(5) bestätigen diesen Sachverhalt. Diese Pilzart schlossen wir daher rasch aus.
Bild 4: Poren von Trametes cervina/Trametopsis cervina – Hirschbraune Tramete – Vergrösserung
Zuhause untersuchte ich die gefundenen Exemplare makro- und mikroskopisch genauer.
Bekanntlich gleicht das Herausfinden der Zugehörigkeit eines Pilzes zu einer Pilz-Gattung und später zur genauen Art oft eigentlicher Detektivarbeit, die viel Geduld verlangt: so auch in diesem Fall.
Von der Gestaltung der Porenschicht und der Sporenform her hätte es sich beim Fund um Fuscopostia fragilis (früher Postia fragilis; Braunfleckender Saftporling) handeln können. Diese Art hat nach Breitenbach u. Kränzlin(1) längliche, leicht gebogene Sporen, die Poren sind eckig bis labyrinthisch. Die Porenschicht soll weiss sein und bei Berührung bräunen, was wir bei unseren Exemplaren nicht beobachten konnten. Bei unserem Fund war diese bereits beim Auffinden bräunlich. Doch Ryvarden u. Melo(5) schreiben auch, dass die Porenschicht älterer Exemplare von F. fragilis ein dunkles Braun aufweisen können.
Die gefundenen Exemplare hatten zwar längliche, leicht allantoide, d.h. gebogene Sporen (vgl. Bild 6); ca. 5-6.5 [7] x 1.5-2 µm, aber sie waren im Allgemeinen etwas länger als die Sporen von F. fragilis (bei Ryvarden u. Melo(5): 4-5.5 x 1.7-2.1).
Ich konnte Schnallen an einigen Hyphen nachweisen (s. Bild 5). Schnallen sind buckelförmige Auswüchse über Trennwänden zwischen einzelnen Hyphenabschnitten. Die Sporen zeigten in Melzers Reagens keine Blaufärbung (s. Bild 6).
Bild 5: Schnalle – s. Pfeil – an einer generativen Hyphe von Trametopsis cervina (ca. 600-fache Vergr., Einfärbung mit Kongorot)
Von den Sporen unseres Fundes her landete ich auch bei Ceriporiopsis resinascens (Harziger Wachsporling). Die von mir gemessenen Sporen waren ähnlich lang wie die Sporen der genannten Art (bei Ryvarden u. Melo(5): 4-6 [8] x 2-2.6 µm), aber deutlicher allantoid (d.h. wurstförmig, leicht gebogen). C. resinascens entwickelt darüber hinaus keine halbrunden Hutformen wie unser Fund.
Bild 6: Sporen von Trametopsis cervina (in Melzers Reagens, ca. 600-fache Vergr.))
Unseren Pilz brachte ich am 20. März 2023 zum wöchentlichen Treffen in den Verein für Pilzkunde Zürich, schrieb ihn – mit einiger Unsicherheit – provisorisch als Postia fragilis (Braunfleckender Saftporling) an und stellte ihn zur Diskussion aus.
Ein langjähriges Vereinsmitglied hatte bei unserem Fund von Anfang an den Verdacht, es könnte sich um eine Art der Gattung Trametes handeln. Bekannte Vertreter dieser Gattung sind die Schmetterlings-Tramete (Trametes versicolor), die Buckel-Tramete (Trametes gibbosa) und die Striegelige Tramete (Trametes hirsuta). Die drei genannten Arten haben jedoch eine zähere Konsistenz als die vorliegenden weichen Pilzfruchtkörper.
Eine weitere Möglichkeit wäre eine Art der Gattung Antrodia (den sog. Braunfäuletrameten). Diese Gattung bildet jedoch meistens härtere Pilzfruchtkörper aus, was nicht zu unseren weichen, etwas flatterigen Exemplaren passte.
Der erfahrene Kollege nahm eines unserer Exemplare zur genaueren mikroskopischen Untersuchung mit nach Hause. Einige Tage später, nachdem auch der sog. Sporenabwurf gelungen war, informierte er uns per Mail, dass er bei der mikroskopischen Untersuchung (mindestens) ein dimitisches Hyphensystem (s. Anhang) gefunden hatte.
Die oben erwähnte Fuscopostia fragilis hat jedoch ein monomitisches Hyphensystem. Somit konnte F. fragilis definitiv ausgeschlossen werden.
Zur anschliessenden definitiven Bestimmung der Pilzart verwendete er den Schlüssel von Jülich(3) und stiess schliesslich auf die Art Trametes cervina (Hirschbraune Tramete).
Nun stimmte plötzlich alles! Die Bilder, die wir im Internet fanden, glichen unseren Fotos zum Teil frappant(8); die Sporengrösse und -formung (leicht allantoid) ebenfalls.
Im 2. Band (Nichtblätterpilze) des Werkes von Breitenbach u. Kränzlin(1) ist diese Art nicht enthalten. Das Foto in Ryvarden u. Melo(5) war irreführend, es zeigte eine gänzlich andere Formung; die Hutoberfläche ist nicht sichtbar und die Poren sind rundlich – möglicherweise ist dort ein sehr junges Exemplar abgebildet.
Systematik
Der Basidienpilz Trametes cervina wurde früher zur Gattung Trametes (Trameten) und zur Familie Polyporaceae (Stielporlingsverwandte) gezählt. DNS-Untersuchungen zeigten jedoch, dass unser Pilz besser zur neu vorgeschlagenen Familie Irpicaceae passt. (Ein deutscher Name dieser Familie ist noch nicht bekannt. Am ehesten könnte man den Namen «Eggenpilzverwandte» verwenden).
Der in unseren Breitengraden bekannte Irpex lacteus (Milchweisser Eggenpilz), der neu auch zu dieser Familie gezählt wird, hat interessanterweise ebenfalls häufig labyrinthische Poren und abgeplattete Zähnchen oder Stacheln in der Porenschicht.
Um die untersuchte Art von der Gattung Trametes abzugrenzen wird sie neu Trametopsis cervina genannt. Die dazugehörige DNS-Untersuchung und der neue Name stammen vom polnischen Mykologen Michal Tomšovský(7) und bedeutet so viel wie “trametenähnlich”.
Die Familie Irpicaceae gehört zur Ordnung der Polyporales (Porenpilze). Die Unterklasse ist noch unbekannt («Incertae sedis»), die übergreifende Klasse ist Agaricomycetes, zu der zahlreiche Ordnungen gezählt werden.
Verbreitung
Im Verbreitungsatlas der Schweiz >SwissFungi<(6) findet man zu Trametopsis cervina (Trametes cervina) nur 15 eingetragene Fundorte (Bild 7). Da an einem bestimmten Fundort mehrere Exemplare zu verschiedenen Zeiten eingetragen sein können (beim Anklicken eines Vierecks auf der SwissFungi-Seite werden diese sichtbar), sind es insgesamt 22 Funde – 3 Funde zwischen 1800-1990 und 19 Funde zwischen 1991-2024. Von letzteren stammen allein 11 Funde von Stephan Blaser, Mykologe am WSL und Spezialist für Pilze an Bäumen (Corticiaceae und Polyporaceae im weiteren Sinne).
Bild 7: Fundmeldungen zu Trametes cervina/Trametopsis cervina im Verbreitungsatlas SwissFungi(6)
Gemäss dem WSL-Verbreitungsatlas und der zu Rate gezogenen Fachliteratur gilt diese Pilzart als selten bis sehr selten.
Möglicherweise wird sie jedoch oftmals übersehen, da sie eher unscheinbar aussieht oder sie wird falsch bestimmt, da sie makroskopisch leicht verwechselbar oder weil die genaue mikroskopische Bestimmung anhand des Hyphensystems und der Sporengrösse und -form recht schwierig ist.
Darüberhinaus ist die Anfertigung sehr dünner Präparate zum Mikroskopieren der meistens recht harten Rindenpilze/Porenpilze häufig knifflig und braucht viel Übung.
Quellenangaben
(1) Breitenbach, Josef & Kränzlin, Fred: Pilze der Schweiz. Band 2. Luzern: Verlag Mykologia, 1986.
(2) Jahn, Hermann: Trametes cervina, in: Einige in der Bundesrepublik Deutschland neue, seltene oder wenig bekannte Porlinge (Polypraceae s. lato). Westfälische Pilzbriefe 10/11, 1983. S.224-234.
(3) Jülich, Walter: Die Nichtblätterpilze, Gallertpilze und Bauchpilze. Aphyllophorales, Heterobasidiomycetes, Gastromycetes. (Bd. 2, Teil 1, der von Helmut Gams herausgegeben Kleinen Kryptogamenflora). Stuttgart, New York: Gustav Fischer Verlag, 1984. S. 371-372.
(4) Ryvarden, Leif & Gilbertson, Robert L.: European Polypores. Fungiflora,(Synopsis Fungorum 6 u. 7), 1994. S. 654
(5) Ryvarden, Leif u. Melo, Ireneia: Poroid fungi of Europe. Oslo, Fungiflora (Synopsis Fungorum 37), 2017 (2. Aufl.)
(6) SwissFungi Verbreitungskarte zu Trametes cervina/Trametopsis cervina: https://www.wsl.ch/map_fungi/search?taxon=6868&start=1991&end=2024&lang=de (für diesen Beitrag heruntergeladen: 22.05.2024).
(7) Tomšovský, Michal: Molecular phylogeny and taxonomic position of Trametes cervina and description of a new genus Trametopsis, 2008: https://www.researchgate.net/publication/235914236_Molecular_phylogeny_and_taxonomic_position_of_Trametes_cervina_and_description_of_a_new_genus_Trametopsis
(8)Vgl. z.B. die Internetseiten Pilzforum.eu (Diskussionsseite): https://www.pilzforum.eu/board/thread/36713-trametes-cervina-hirschbraune-tramete/ oder Fundkorb.de: https://fundkorb.de/pilze/trametes-cervina-hirschbraune-tramete.
Anhang
Erklärung zu den Begriffen monomitisch, dimitisch, trimitisch
Bei den Rindenpilzen (Corticiaceae und Polyporaceae im weiteren Sinne) mit und ohne Poren in der Fruchtschicht werden drei Hyphensysteme (Pilzfädensysteme) unterschieden:
Ein monomitisches Hyphensystem besteht nur aus generativen Hyphen, die für die Fortpflanzung des Pilzes verantwortlich sind. Diese Hyphen sind meistens hyalin (durchsichtig), dünnschichtig und vorwiegend unverzweigt und können über Trennwänden zwischen einzelnen Hyphenabschnitten sog. Schnallen (buckelförmige Auswüchse) besitzen.
Ein dimitisches Hyphensystem besteht aus zwei Arten von Hyphen: generativen Hyphen und Skeletthyphen. Die Skeletthyphen sind stärker und dickwandig, während die generativen Hyphen dünnschichtig und meistens unverzweigt sind. Dieses Hyphensystem ist typisch für viele Corticiaceae- und Polyporaceae-Arten im weiteren Sinne.
Ein trimitisches Hyphensystem besteht aus drei Arten von Hyphen: generativen Hyphen, Skeletthyphen und Bindehyphen. Die Bindehyphen sind sehr dünn, verzweigt und verbinden die Skeletthyphen miteinander. Dieses Hyphensystem ist selten, aber es kann bei einigen Porenpilzen gefunden werden. Beispiel: Fomitopsis pinicola (Rotrandiger Baumschwamm/Fichtenporling).
Die genaue Beurteilung des Hyphensystems braucht es häufig zur eindeutigen Identifizierung von Rindenpilzen, da es ein wichtiges Charakteristikum der Gattungen und Arten ist.
Ausgerechnet bei der Beurteilung des Hyphensystems von Trametopsis cervina sind verschiedene Autoren jedoch nicht einer Meinung. Die einen sprechen von einem dimitischen (z.B. Ryvarden u. Melo(5)), andere von einem trimitischen Hyphensystem (z.B. Ryvarden u. Gilbertson(4)) und Jülich(3) schreibt “trimitisch (?)”. Diese unterschiedlichen Einschätzungen könnten damit zusammenhängen, dass das Hyphensystem von Trametopsis cervina eine Besonderheit besitzt und zwar sog. “skeletoide Hyphen” – Hyphen, die Skeletthyphen ähneln. Jahn(2) schreibt dazu:
»Die Frage, ob es sich bei den „skeletoiden Hyphen” von T. cervina um Skelett- oder Bindehyphen handelt, lasse ich hier also zunächst offen, sie sind eine Art „Zwischending”, intermediär zwischen beiden. Wahrscheinlich werden die meisten Beobachter dazu neigen, in ihnen Skeletthyphen zu sehen. Keineswegs möglich erscheint es mir aber, wenn man in diesen Hyphen beides, nämlich sowohl Skeletthyphen als auch Bindehyphen sehen möchte, je nach der Tendenz der einzelnen Hyphen — sicherlich handelt es sich hier nur um einen Hyphentyp !«
(vgl. Abb. 1)
Abb.1: Hpyhen von Trametes cervina, Abb. von Jahn(2). Dünnwandige und dickwandige generative Hyphen, diese als interkalare [eingeschobene], sklerifizierte [dickwandige] Segmente (b, d, h,). Bildung von skeletoiden Hyphen bei a, b, i.
Zürich, 16. Juni 2024, Jürg Mächler. Mit bestem Dank an den erfahrenen Kollegen für die genaue und aufwendige Pilzbestimmung und an meine Frau Edith für die kritische Durchsicht und Korrektur des Textes.